|
|
"Mathematik ist Musik"Der weltberühmte gelehrte Leonhard Euler, geboren vor 300 Jahren, erklärt den Zauber der Zahlen
Sie stecken in Reisevorbereitungen, Herr Professor Euler. Wo geht die Reise hin?
require '../layout/euler_footer.inc.php';
?>Zwar stehe ich jetzt im Mai 1766 im 60. Lebensjahr und zögere, Berlin zu verlassen. Aber die Umstände veranlassen mich, dorthin zurückzukehren, von wo ich vor 25 Jahren mit großen Erwartungen nach Berlin gekommen war, nach St. Petersburg. Der König lässt Sie ziehen? Seine Majestät hat mir am 2. Mai mitgeteilt, sie gestatte mir auf meinem Brief vom 30. April hin, den Dienst in Berlin zu beenden und nach Russland zu gehen. Nach 25 Jahren höchst erfolgreicher Tätigkeit in Berlin nur ein kurzes Schreiben. Haben Sie doch hier Ihre wichtigsten mathematischen Werke verfasst. Ihre Erwartungen wurden enttäuscht? Nicht von Anbeginn und nicht in jeder Hinsicht. Meine Verdienste um die Berliner Akademie geruhte freilich seine Majestät nicht so zu würdigen, wie ich es erhoffen durfte, zumal sich ihr Berater d'Alembert für mich als Akademiepräsidenten ausgesprochen hatte. Sie sind zweifellos einer der berühmtesten Mathematiker unserer Zeit. Dennoch muss die Frage gestattet sein, ob nicht die höhere Mathematik unnütz ist. Sie scheint mir ein Spinngewebe zu sein, das seiner außerordentlichen Zartheit wegen nicht gebraucht werden kann. Weit gefehlt, mein Herr! Ich habe zu Beginn meiner Berliner Zeit eine längere Abhandlung über den Nutzen der Mathematik für meinen König Friedrich II verfasst. Die Mathematik zeigt uns die Methoden, die zur Wahrheit führen. Geht es etwas konkreter? Nehmen Sie Mechanik, Hydrostatik, Astronomie, Artillerie, Schifffahrt oder Physiologie, deren Nutzen und Notwendigkeit jedermann anerkennt. Zu all diesen Gebieten haben Sie mathematische Untersuchungen vorgelegt? Hunderte von Veröffentlichungen. Nehmen wir nur die Schifffahrt. Die Wissenschaft vom Bau und von der Steuerung der Schiffe ist so schwierig und erfordert so gründliche Kenntnis der Mechanik und Hydrostatik, dass ohne Hilfe der höheren Mathematik nichts geleistet werden kann. Ich habe meine Abhandlung über die günstigste Bemastung eines Segelschiffes als 19-Jähriger noch aus Basel nach Paris geschickt und damit immerhin den zweiten Preis der französischen Akademie der Wissenschaften gewonnen. Sie können doch seinerzeit als Schweizer aus Basel im Schiffsbau nicht eben viel Erfahrung gehabt haben. Dies war auch keineswegs nötig. Ich habe es nicht einmal für nötig gehalten, meine Theorie durch die Erfahrung zu bestätigen, da sie vollständig und aus sichersten und unangreifbaren mechanischen Prinzipien abgeleitet war. Darf ich Sie bitten, bei der Wahrheit zu bleiben? Nun, ich gebe zu, dass ich tatsächlich darangegangen war, die Theorie auch durch das Experiment zu bekräftigen. Freilich nur, damit ein Zweifler an der Zuverlässigkeit der Prinzipien die Wahrheit durch die Tatsache selbst bekräftigt sehen konnte. Und doch scheint es eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis zu geben. Seine Majestät, der König, soll über das Scheitern der Versuche, im Schlossgarten Sanssouci einen Springbrunnen anzulegen, recht ungehalten gewesen sein und die Eitelkeit der Mathematik verspottet haben. Seine Majestät hatte 1748 befohlen, einen 30 Meter hohen Springbrunnen anzulegen. Den Auftrag erhielten unerfahrene Praktiker. Im Jahr darauf habe ich meine Bedenken über die erforderlichen hydromechanischen und finanziellen Mittel vorgetragen. Doch fand ich weder bei den Praktikern noch beim König Gehör. Wollen Sie damit sagen, Sie hätten den Misserfolg vorausgesagt? Genau so ist es. Ich habe den Weg für eine moderne Hydraulik geebnet. 1757 habe ich die hydromechanischen Gleichungen von Flüssigkeitsbewegungen veröffentlicht. Wie man hört, haben Sie für eine Prinzessin Briefe über Themen aus Physik und Philosophie verfasst. überfordert das nicht die zarte Seele eines jungen Mädchens? Welch Vorurteil gegenüber dem schönen Geschlecht! Ich bin mit meiner Schülerin sehr zufrieden. Ist sie doch eine Tochter meines Freundes, des Markgrafen Friedrich Heinrich von Brandenburg Schwedt. Wir lieben beide die Musik. So habe ich begonnen, Ihrer Hoheit die Lehre von Tönen und Konsonanzen darzulegen. Sie haben doch schon damals in Petersburg ihr großes Werk zur neuen Musiktheorie nach den sichersten Prinzipien der Harmonie verfasst. Die Mathematik ist das Reich wissenschaftlicher Sicherheit. Meine Musiktheorie ist ein mathematisches Werk. Seit der Antike ist Musiktheorie eine mathematische Disziplin. Was ist daran neu? Ich kenne keine Dissonanzen mehr, sondern nur noch verschiedene Grade der Annehmlichkeit. Ich schlage eine musikalische Stimmung vor, die den Bau des menschlichen Ohres berücksichtigt. Was missfällt, wird also mathematisch wegdefiniert. Dennoch scheint sich mir Genuss etwa beim Hören einer Komposition nicht in Mathematik auflösen zu lassen. Ein Kunstwerk ist ein lösbares Rätsel. Es bereitet Vergnügen, die Absichten und Empfindungen des Komponisten zu erraten, ganz so wie es Vergnügen bereitet, den Sinn eines Rätsels zu erraten. Sie haben noch viel vor? Katharina II bietet mir beste Bedingungen. Ich werde sie nicht enttäuschen. Dieses fiktive Interview führte Eberhard Knobloch, Professor für Geschichte der exakten Wissenschaften und der Technik (TU Berlin) und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. |